Wie man eine Botschaft einrichtet
Zwei Tage später reiste Botschafter Bullitt wieder nach Washington. George Kennan, damals Legationssekretär im Auswärtigen Dienst, blieb in Moskau zurück, um Räumlichkeiten für die neue Botschaft zu besorgen und einzurichten, die im Februar ihre Tätigkeit aufnehmen sollte. Ich lernte weiterhin täglich zehn bis zwölf Stunden allein oder mit meiner Lehrerin Russisch. Um Weihnachten herum platzte mir fast der Kopf vor lauter Endungen, unregelmäßigen Verben und einem wüsten Durcheinander von Vokabeln. Mir schien ein Urlaub angebracht, zumal das Wetter in Moskau ausschließlich aus Schnee, Regen und Nebel bestand.
Ich entschloß mich zu einem Ausflug in den Kaukasus — und zwar ohne Intourist-Anstandsdame. Ich wollte nach Sotschi, einem Sommerkurort am Schwarzen Meer. Da es in dieser Jahreszeit keine durchgehenden Züge dorthin gab, mußte ich in einer kleinen Stadt namens Armavir umsteigen.
Wie in Rußland üblich, hatte der Moskauer Zug Verspätung, so daß ich in Armavir über einen Tag auf den nächsten Anschluß warten mußte. Armavir liegt im Kubangebiet, wo die Hungersnot des vergangenen Jahres besonders heftig gewütet hatte. Um die Zeit totzuschlagen, nahm ich mir einen vierrädrigen Wagen — Droschki — mit einem geschundenen, brandmageren Klepper davor. Der Kutscher war ein bärtiger alter Bauer. Ich sagte ihm, er solle mich durch einige Dörfer in der Nachbarschaft fahren.
«Ich werde Ihnen Dörfer zeigen«, sagte er bitter, »wie Sie es in Ihrem Leben noch nicht gesehen haben.« Und er tat’s.
Das erste Dorf, in das wir kamen, bestand aus etwa zwanzig bis dreißig Bauernhütten. Ein Drittel davon war bewohnt, ein weiteres Drittel bis auf den Boden abgebrannt, und der Rest stand verlassen da und zerfiel. Ein, zwei Kinder mit aufgeblähten Bäuchen, krank vor Hunger, spielten lustlos auf der Straße. Ein paar alte Bauern scharrten in den trostlosen kleinen Gärten hinter den Hütten herum.
Der Kutscher winkte ihnen im Vorüberfahren zu, und sie winkten traurig und müde zurück. »Das ist mein Dorf«, erklärte er, »aber ich bin mit meinem Pferd in die Stadt gegangen, ehe die Kollektivierung begann. Kollektivierung!« Er spuckte verächtlich aus. »Kollektivierung! Zum Teufel — den Hunger haben sie uns gebracht!«
Das nächste Dorf war kleiner. Nur etwa zehn oder zwölf Hütten waren zu sehen. Etliche waren abgebrannt, der Rest stand leer. Nichts rührte sich. Kein Hund bellte. Es war tot. Der Kutscher fuhr ohne ein Wort der Erläuterung hindurch.
Einige Kilometer weiter kamen wir an ein drittes Dorf. Es war nicht größer als das vorige, doch sahen wir auf den Feldern ein paar Männer und Frauen mit Hacken arbeiten. Im Dorf selber waren keine Kinder, überhaupt niemand, außer einer klapprigen, elenden Alten, die auf der Schwelle einer baufälligen Hütte saß und laut schmatzend aus einem irdenen Topf aß. Wir hielten. Ich stieg aus und ging zu ihr hinüber.
»Wo sind die anderen alle?«
»Weg«, sagte sie düster, »alle sind weg. Meine zwei Jungens haben sie mitgenommen. Mein Haus haben sie niedergebrannt.« Sie wies auf die verkohlten Überreste eines Bauwerks nebenan.
»Meinen Mann — erschossen. Die anderen rannten fort in die Stadt, Kinder und alle. Aber ein paar Leute sind noch da, und sie geben mir zu essen.« Sie hielt den Topf hoch und zeigte mir einen Brei aus Kaff und Wasser, den sie mit den Fingern in den Mund schlabberte. »Meine drei Mahlzeiten für heute.«
Ich kletterte wieder in den Wagen und ließ mich zur Stadt zurückfahren. Hungersnot hatte ich für lange Zeit genug gesehen.
Ein Hotelzimmer war in Armavir nicht zu bekommen. Der Stationsvorsteher merkte, daß ich Ausländer war, und lud mich ein, meine Sachen in sein Büro zu stellen und neben dem Ofen zu schlafen.
Es sah nicht danach aus, als ob die Nacht sehr bequem werden würde. Ich machte deshalb erst einen Spaziergang durch die Stadt, in der Hoffnung, müde genug zu werden, um auf dem harten Boden schlafen zu können. Kaum hundert Meter vom Stationsgebäude entfernt, während ich eine Straßenlaterne passierte, tauchte aus der Dunkelheit vor mir ein Wagen mit Brennholz auf. Der Fahrer saß gegen die Ladung gestützt auf dem Bock und schlief friedlich. Plötzlich schwärmte aus einem Seitenweg etwa zwanzig Meter weiter unten eine Horde kleiner Wesen hervor und rannte auf mich zu. Als ich sie so geduckt über den Boden hinhuschen sah, hielt ich sie zuerst für wildernde Hunde oder sogar für Wölfe; erst als sie näher kamen, erkannte ich, daß es Kinder waren. Ihre Gesichter glichen denen müder Greise; ihre Kleider, viel zu groß für sie, schleiften beim Laufen im Schmutz nach. Der Anführer der Gruppe von etwa fünfzehn Kindern war etwa zwölf bis vierzehn Jahre alt. Die Kleinsten, die nicht Schritt halten konnten, stolperten hinterdrein. Ihren schmalen Gesichtern nach, die zugleich seltsam ausgemergelt und alt aussahen, schätzte ich sie auf sieben oder acht Jahre. Ich hatte schon in Moskau von diesen verwahrlosten Kindern gehört, die von der Hungersnot aus ihren Dörfern vertrieben worden waren, sich in den Städten zu Banden zusammenschlossen und von dem vegetierten, was sie erbettelten, borgten oder stahlen. Ungeachtet ihrer Jugend hatten sie sich bald einen Ruf von Gewalttätigkeit und Mord erworben, dessen sich kaum ein sizilianischer Straßenräuber rühmen konnte. Es war meine erste persönliche Begegnung mit ihnen, und ich kann nicht leugnen, daß ich durch und durch entsetzt war.
Ich hielt bei der Lampe an und lehnte mich gegen sie. In der Tasche hatte ich eine kleine Derringer-Pistole, nicht viel größer als meine Handfläche. Ich trug sie in Rußland immer bei mir, doch zum ersten und einzigen Mal in meinem Leben zog ich sie jetzt hervor und entsicherte sie. Der bloße Gedanke, auf Kinder zu schießen, wäre gräßlich; aber die Aussicht, ermordet zu werden, war noch weniger angenehm. Ich stand und wartete. Der Anführer kam näher. Jetzt war er — oder sie, man konnte es weder an den Lumpen noch an dem angespannten kleinen Gesicht erkennen — nur noch drei Meter entfernt. Während ich überlegte, ob ich ihn vielleicht mit einem Schuß durch die Tasche verjagen könnte, sah ich, daß er mich gar nicht beachtete. Er — oder sie — rannte an meiner Laterne vorbei dem Holzwagen nach, die wilden, gierig blitzenden Augen auf das Brennholz gerichtet. Der Rest der Bande preschte ebenfalls an mir vorbei. Ihre langen, filzigen Mäntel, deren Ärmel weit über die kleinen Hände fielen, streiften mich fast.
Erst als sie den Wagen eingeholt hatten, begriff ich den Vorgang. Mit einer Geschwindigkeit ohnegleichen stürzten sie los und waren Augenblicke später schon wieder in den dunklen Seitenstraßen verschwunden. Jeder schleppte so viel Holz mit, wie er nur eben konnte, und sie gingen so katzengeschickt vor, daß der Fahrer hinterher immer noch schlief. Von der Ladung war genau so viel übriggeblieben, wie erforderlich war, ihn auf seinem hohen Sitz zu stützen. Viele Jahre später interviewte ich einen jungen russischen DP, der sich um eine Stelle bei der »Stimme Amerikas« bewarb. Er erzählte mir, daß er aus dem Kubangebiet stamme und durch eine Kombination von Hungersnot, die seine Mutter tötete, und Deportation, die ihm den Vater nahm, verwaist sei. Ich fragte, wie er es denn überhaupt geschafft habe, durchzukommen.
»Ich habe mich einem Trupp verwilderter Kinder angeschlossen«, erwiderte er, »und irgendwie haben wir es dann eben geschafft.«
»Wo war das?« erkundigte ich mich.
»Armavir.«
Er erinnerte sich nicht an jenen bestimmten Holzwagen, gab aber zu, eine ganze Anzahl davon leergeräubert zu haben. In jener Nacht in Armavir schlief ich noch schlechter, als ich befürchtet hatte, und fuhr am nächsten Morgen nach Sotschi.
Sotschi war kalt und düster — was mir übrigens alle vorher erzählt hatten. Ich nahm also einen Sowjetdampfer nach Batum, der in Poti umladen mußte und einige Stunden Aufenthalt hatte. Im Hafen lud eine Anzahl fremder Schiffe, hauptsächlich griechische und türkische, Getreide. Ich fragte einen Schiffer, wohin das Korn gehe.
»Ins Ausland — für Devisen«, antwortete er. Die Art, wie er es sagte, zeigte deutlich, daß auch er an die Hungersnot nicht viel weiter nördlich dachte.
Baturn war warm und fast tropisch. Ich nutzte das schöne Wetter zu einer ausgedehnten Wanderung in die Berge jenseits der Stadt. Leider war ich in keiner allzu guten körperlichen Verfassung und überschätzte meine Kräfte. Auf dem Rückweg hatten meine Füße Blasen, alle Knochen taten mir weh, und ich war hundemüde. Ein georgischer Bauer, der meine Müdigkeit wohl erkannte, bot mir einen Platz auf seinem Panjewagen an. Dankbar kletterte ich neben ihn. Es dauerte nicht lange, bis wir uns auch schon in gebrochenem Russisch munter unterhielten. Ich erkundigte mich, ob die Pferdchen einer Kollektivfarm gehörten. Er verneinte lächelnd. Sie gehörten ihm selber und würden ihm auch weiterhin gehören. Drei Stück habe er bereits an ein Nachbarkollektiv abgeben müssen, aber zu weiteren Abgaben würde ihn keine Macht der Welt zwingen können. Er unterstrich die Worte durch eine Geste, aus der hervorging, was er mit jedem machen würde, der jemals einen Druck auf ihn ausüben würde. Ich fragte ihn, weshalb er sich denn nicht auch einem Kollektiv anschlösse. Waren die Zeiten nicht dadurch besser geworden, und bekam man nicht mehr Brot, wenn man mitmachte? Was gefiel ihm denn nicht am Kollektivsystem? Als Antwort drückte er mir einen seiner beiden Zügel in die Hand.
«Wenn Sie nach links wollen, ziehen Sie an Ihrem Zügel. Ich will nach rechts und ziehe an meinem. Was geschieht? Sehen Sie, wir bleiben stehen. So geht’s mit dem Kollektiv — jeder will was zu sagen haben, und das Ganze bleibt stehen.«
Die Erklärung erschien mir so gut wie nur irgendeine. Nach ein, zwei Tagen fuhr ich nach Tiflis weiter, der meiner Meinung nach schönsten Stadt der Sowjetunion. Ob es daran liegt, daß die dickköpfigen Georgier ihre Gewohnheiten, Häuser und Städte nicht sowjetisieren lassen wollen (selbst dann nicht, wenn es durch Georgier geschieht), oder ob es am Klima und der Landschaft liegt, weiß ich selber nicht. Aber Tiflis mit seinen engen, gewundenen Straßen, seinen handgeschmiedeten Gitterbaikonen, seinen Gärten und Parks hat mehr Eigencharakter und Charme als irgendeine Stadt der UdSSR.
Doch ich mußte schleunigst nach Moskau zurückfahren. In den Zeitungen tauchte die Nachricht auf, Bullitt käme eher wieder, als erwartet, und natürlich wollte ich bei seinem Eintreffen dasein. So stieg ich also nach wenigen Tagen des Umherschlenderns in den alten Stadtteilen und einem bißchen Klettern in den nahe gelegenen Bergen wieder in den Zug nach Baku.
Ich benutzte ein Schlafabteil zweiter Klasse zusammen mit drei russischen Parteimitgliedern, die vor der Abfahrt noch die Zeit gefunden hatten, etliche Liter Wodka zu erstehen. Es wurde eine fröhliche, lärmende und ziemlich schlafarme Nacht, in der wir Wodka tranken und einander zahllose Fragen über Rußland und Amerika stellten.
Um fünf Uhr morgens kamen wir in Baku an. Meine Parteifreunde hatten mir das Europa-Hotel empfohlen. »Da wohnen alle Ausländer«, versicherten sie mir. Das Hotel war voll besetzt, bis auf ein Zimmer, das wenigstens während des Tages frei war. Der Nachtportier versprach, es später herzurichten, wenn ich so lange warten wollte. Ich setzte mich also in die Halle und wartete. (Warten ist ein russischer Nationalzeitvertreib.)
Während ich dort die Auswirkungen der fröhlichen Nacht über mich ergehen ließ, kam der Hotelschuhputzer vorbei, der soeben seinen Tag beginnen wollte. Er fand mein Russisch nicht gut genug und schaltete auf Türkisch und dann auf Deutsch um. Endlich versuchte er es mit Englisch. Wir plauderten ein paar Minuten lang, und ich machte die Bemerkung, sein Akzent sei entschieden mehr amerikanisch als englisch.
»O ja, das soll er auch«, schmunzelte er, «ich hab’s in Amerika gelernt.«
«Was haben Sie denn drüben gemacht?«
»Unter dem Zaren war ich Matrose, und vor zwanzig fahren, beim Ausbruch des Krieges, kaufte die russische Marine ein paar Kriegsschiffe in Amerika. Ich gehörte zu den Mannschaften, die sie herübergeholt haben.«
Ich spitzte meine Ohren. Über diese Kriegsschiffe hatte ich als Kind viel reden hören.
»Wo haben Sie sie denn abgeholt?«
»In Philadelphia«, antwortete er, »sie sind von den Campschen Werften gebaut worden. Die Wartezeit in Philadelphia war herrlich. Gute Leute da drüben. Haben uns eingeladen und herumgefahren und uns alles mögliche gezeigt — nicht nur den Offizieren, wie’s meist gemacht wird, sondern auch uns Matrosen. Ganz besonders erinnere ich mich an den Direktor der Werft — vielleicht war er auch Subdirektor — , jedenfalls an den, der immer geschäftlich mit uns verhandelte. Eines Tages nahm er uns Matrosen mit auf sein Landhaus und gab ein richtiges Fest für uns. Das werd’ ich nie vergessen. Die Tische standen draußen auf dem Rasen unter einer riesigen Eiche neben dem Haus, und es gab eine Menge russischer Speisen, wie wir sie seit der Ausfahrt nicht mehr gesehen hatten. O ja, sie haben uns fein behandelt, diese Amerikaner.«
Ich freute mich, ihm erzählen zu können, daß die Eiche, an die er sich so gut erinnerte, immer noch grünte. Sein Gastgeber war mein Vater gewesen, und in jenem Landhaus bin ich geboren. Der Exmatrose war zu sehr Mann von Welt, um abgedroschene Phrasen über die Kleinheit dieser Erde zu machen. Er lachte nur und dankte mir nochmals für die schönen Zeiten, die er drüben in Amerika gehabt hatte.
In insgesamt vierundzwanzig Stunden war mir Baku für mein Leben verleidet. Es war feucht, kalt, stank erbärmlich und hatte alle Eigentümlichkeiten einer großen Ölstadt. Und ich finde Ölstädte scheußlich! Ein paar Häuser sahen aus, als ob sich einst darin hätte leben lassen, aber seit die internationalen Ölgesellschaften Baku zu Anfang des Jahrhunderts entdeckt hatten, waren sie von öl und Rauch und Schmutz aufgeschluckt und durchtränkt worden. So schnell ich konnte, verließ ich den unfreundlichen Ort und nahm den »Expreß« nach Moskau.
Dort angekommen, suchte ich George Kennan auf, der immer noch im National-Hotel wohnte. Auf dem Flur vor seinem Zimmer drängte sich eine Menschenmenge. Ich quetschte mich, wie in der Moskauer Straßenbahn fleißig geübt, hindurch und betrat den Raum. Kennan saß hinter einem Wall von Papieren, Karten, Formularen und Gott weiß was sonst noch. Ich sagte ihm, er sehe ziemlich ermüdet und zersorgt aus. Er lächelte gequält. »Ach ja, es gibt allerhand zu tun. Ich muß die Mietverträge ausarbeiten und von Washington die Genehmigung zum Unterzeichnen einholen. Die Leute draußen bewerben sich alle um Arbeit und müssen interviewt werden. Tag für Tag muß ich tausend Fragen beantworten. Nach fünfzehn Jahren ohne Botschaft hat sich von allein ein Berg an Arbeit angehäuft. Und vieles davon ist dringend — oder scheint es wenigstens den Betroffenen zu sein.«
»Kann ich Ihnen nicht irgendwie helfen?« fragte ich.
»Wir sind vom State Department noch nicht befugt, jemanden einzustellen. Aber trotzdem herzlichen Dank.«
»Na, ich habe auch keine feste Anstellung gemeint. Es sieht nur so aus, als ob Sie ein bißchen Hilfe brauchen könnten.«
»Die Bestimmungen erlauben mir nicht mal, freiwillige Hilfe anzunehmen, aber« — er überlegte einen Moment — »haben Sie eine Ahnung davon, wie hier in Moskau die Zollregelung gehandhabt wird?«
»Ich selber habe einen Koffer durch den Zoll geschleust«, erwiderte ich, »es hat ungefähr zwei Monate gedauert, und ich glaube, ich habe bei der Gelegenheit jeden getroffen, der irgendwann einmal dienstlich mit dem Moskauer Zollamt zu tun gehabt hat. Ein paar Bürodiener mögen mir allenfalls entgangen sein. Den Koffer aber habe ich.«
Kennan zögerte noch. »Die größte Schwierigkeit ist im Augenblick folgende: Von Amerika aus sind vierzig Waggons mit Einrichtungsgegenständen für die neue Botschaft unterwegs. Washington hat mir einfach geraten, die ganze Angelegenheit der Moskauer Expreßgutabfertigung zu übergeben — aber so was gibt es hier gar nicht. Das State Department scheint nicht zu bedenken, daß in einem sowjetischen Staat alles ein bißchen anders ist. Sie werden schließlich schon noch darauf kommen«, fügte er etwas forciert munter hinzu, »aber im Anfang ist es für uns hier an Ort und Stelle nicht so ganz einfach.«
»Vierzig Waggons«, wiederholte ich überwältigt, »vierzig Waggons voll was?«
»Vierzig Waggons voll Möbel für die Botschaft und die Zimmer des Personals und natürlich auch die Einrichtungen für die Kanzlei.«
»Kanzlei? Was ist denn das?«
»Die Kanzlei enthält die Büros einer Botschaft. Unsere kommt in das Gebäude nebenan, das gerade fertiggestellt wird.«
»Ja, aber das Haus hat ja noch nicht einmal ein Dach. Wo soll denn der ganze Krempel solange aufbewahrt werden?«
»Eben — darum müssen wir uns ja kümmern! Lagerräume beim Zoll besorgen. Vielleicht könnten Sie sich mal mit der Sache befassen und mir berichten, wie die Bestimmungen genau lauten, welche Papiere beschafft werden müssen und so weiter. Ich gebe Ihnen eine Bescheinigung, daß Sie mich vertreten. Es ist gegen die Vorschrift, aber zum Teufel mit allen Vorschriften!«
Kurze Zeit darauf eilte ich meiner ersten Aufgabe im Dienste der Botschaft nach.
Der Chef der Zollabteilung empfing mich in seinem hellen, gekalkten Büro im Zollamt auf dem Bahnhofsplatz, an dem nebeneinander der Leningrader und der Nordbahnhof und ihnen gegenüber der rote Ziegelbau des Kasaner Bahnhofes liegen. (Acht Jahre später verließ ich in einer regnerischen, düsteren Nacht vom Kasaner Bahnhof aus Moskau für immer, während deutsche Flugzeuge den Platz bombardierten.)
Der Zollchef war ein riesiger alter Herr, an die zwei Meter groß und beinahe so breit. Sein grauer Bart wallte ihm fast bis auf den mächtigen Bauch. Dazu war er ebenso liebenswürdig wie imposant, behandelte mich mit dem Charme des Diplomaten der guten alten Schule und lauschte intensiv meinen Problemen. Ich setzte sie ihm, so gut ich es in meinem grammatisch nicht gerade einwandfreien Russisch konnte, auseinander.
Als ich auf die vierzig Wagen zu sprechen kam, entspannte sich seine Haltung etwas, und er lächelte. »Vierzig Tage, sagen Sie? Weshalb sollen wir uns dann jetzt schon den Kopf zerbrechen? Da haben wir ja noch so viel Zeit! Wenn Ihr Gepäck ankommt, werden wir Sie benachrichtigen, und Sie schicken einfach einen Boten mit den notwendigen Papieren her.«
»Nicht vierzig Tage, vierzig Wagen«, sagte ich.
»Vierzig Wagen? Eine enorme Menge für eine einzige Botschaft — aber so sind die Amerikaner nun mal. Ja, ja, wir wissen schon Bescheid: gehen nicht gern zu Fuß, wie? Na, wenn es dem Kommissariat für Auswärtige Angelegenheiten recht ist, haben wir bestimmt nichts dagegen. Sobald sie ankommen, schicken Sie uns die Chauffeure. Schwierigkeiten entstehen da keine.«
»Nein! Nein! Nicht Wagen, keine Autos, Eisenbahnwagen — Waggons.«
Jetzt wurde der Zollchef etwas ungeduldig. »Was, zum Donnerwetter, macht denn eine Botschaft mit vierzig Eisenbahnwaggons? Wollen Sie sich etwa eine eigene Bahn bauen? Oder sollen sie ein Geschenk für das Transport-Kommissariat sein? In dem Fall wird sich das Kommissariat schon selber um den Zoll kümmern.«
Ich versuchte krampfhaft, »vierzig Waggons voll Möbel« auf russisch zu sagen. Während all der Wochen meines Studiums war diese Phrase nie in meinen Lektionen vorgekommen. Ich zeigte auf den Schreibtisch des Zollchefs, auf seinen Stuhl, die Couch, den Tisch und all die anderen Einrichtungsgegenstände des Raumes.
»Fünfmal soviel ist eine Waggonladung voll. Morgen, übermorgen oder doch sehr bald werden zweihundertmal soviel Möbel für die Botschaft ankommen — hier am Zollamt eintreffen.«
Der Zollchef hörte auf zu lächeln. Er hat mich, einen Moment zu warten, und ließ seinen Assistenten kommen. Der Assistent, ein junger Mann, groß und dünn und müde blickend, kam und setzte sich neben seinen Chef. Dieser forderte mich auf, das Gesagte zu wiederholen.
Als ich schloß, entstand eine lange Stille, während derer sich Chef und Assistent gegenseitig anstarrten.
Der Assistent sprach als erster: »Das ist ein völlig neues Problem für uns. Wir haben hier sonst nur mit kleineren Dingen zu tun. Mit privatem Hand- oder Reisegepäck. Eine ganze Botschaft auf einmal — das ist noch nie dagewesen! Große Sendungen sind immer für einen Trust bestimmt oder für ein Kommissariat, auf alle Fälle also für die Regierung. Sie werden gleich an die betreffenden Werke oder Fabriken selbst geschickt. Alles, was wir davon sehen, sind die Papiere. Das hier ist jedoch was anderes. Da muß natürlich alles von uns inspiziert werden. Aber vierzig Wagenladungen voll! Eine solche Sendung würde das Zollamt ja für Wochen blockieren. Wir werden ganz spezielle Vorschriften ausarbeiten müssen.« Er sah seinen Chef an und flüsterte ihm etwas zu. Der Chef lächelte zustimmend. »Ja, so mag’s gehen!« Sich zu mir wendend, sagte er: »Kommen Sie morgen wieder. Vielleicht ist uns bis dahin etwas eingefallen.«
»Aber es könnte sein, daß die vierzig Wagenladungen morgen schon eintreffen, und was machen wir dann?«
Der alte Herr nickte resigniert. »Tja, Sie haben recht! Wir müssen einen Plan machen, und zwar sofort.«
Im gleichen Augenblick erwachte er zu Energie und Geschäftigkeit. »Einen Schlachtplan! Kein Augenblick ist zu verlieren, oder der Feind rennt uns über den Haufen!« schrie er gut gelaunt. »Es ist wieder wie im Bürgerkrieg.«
Wir steckten die Köpfe zusammen, und langsam nahm der Vierzig-Wagen-Plan des Zollamts Form und Gestalt an.
Es würde jeweils nur ein Wagen entladen werden, weil sonst die Rampen für den Normalverkehr blockiert sein würden. Die restlichen neununddreißig mußte die Bahn auf Abstellgleise schieben. Der Zollchef wollte das arrangieren.
Für die neununddreißig würden Wachen benötigt werden. Dafür würde der Assistent sorgen.
Lastwagen?
Zehn Stück pro Tag würden mindestens erforderlich sein. Woher ich sie nähme, würde meine Sache sein. Vielleicht könnte der Umzugs-Trust helfen, meinte der Zollchef. Und natürlich müßten Packer und Träger zur Stelle sein. Acht per Lastwagen würden etwa reichen. Ob ich mich mit dem Gewerkschaftsrat in Verbindung setzen wollte? Lagerräume?
»Mein Gott!« sagte der würdige Zollchef verblüfft, »haben Sie denn nicht mal ein Gebäude?«
Etwas dümmlich stotterte ich meine Erklärung hervor. Nun ja, das sei meine Sorge, aber vielleicht könne er mir einen Tip geben. Von seinem Schwager habe er gehört, daß der Kunstgummi-Trust nach Wladimir umzöge. Möglicherweise hätten sie in ihrem nunmehr leeren Haus ein paar Wochen Platz übrig, bis die Kanzlei ein Dach hätte.
Zum Schluß wies der Zollchef noch darauf hin, daß es sicher etwas Zeit erfordere, die Eisenbahn, den Umzugs-Trust, den Gewerkschaftsrat, die Packer und Träger, die Lagerräume und so weiter zu koordinieren. Er werde deshalb seine Leute an den Grenzstationen beauftragen, ihm zu telegrafieren, sobald eine Sendung für die amerikanische Botschaft die Grenze passiere. Dann hätten wir wenigstens ein paar Stunden zur Vorbereitung gewonnen.
Endlich lag der Plan fix und fertig da, und ich begann meine Runde zu den Trusts, um die Details auszuarbeiten.
Der Umzugs-Trust bewohnte einen ehemaligen Palast. Mit der Wache am Tor gab es das übliche Palaver, doch wurde ich schließlich nach etlichem Hin und Her feierlich durch eine Folge altertümlicher Ballsäle geleitet. Jetzt waren sie mit Regalen vollgepfropft, in und auf denen sich Aktenbündel türmten. In einer Ecke bereitete eine Putzfrau Tee. Einige zwanzig Angestellte kritzelten geschäftig an ihren Schreibtischen oder addierten klickend lange Zahlenreihen auf der Rechenmaschine.
Den Direktor traf ich in einem schmalen Raum, der offenbar ehemals zum Dienstbotentrakt gehört hatte. Mit silbergefaßtem Klemmer, spitzen Ohren und einem blonden gestutzten Ziegenbärtchen glich er eher einem Kaninchen als dem Bild, das ich mir vom Leiter einer Bande Möbelpacker gemacht hatte. Er empfing mich überaus höflich und erkundigte sich, was er für die neu angekommenen Amerikaner tun könne. Jedermann in Moskau, fügte er hinzu, sei begierig darauf, den neuen Gästen behilflich zu sein.
Kaum hatte ich begonnen, meine Erklärungen hervorzustammeln, als auch schon eine Sekretärin in der Tür erschien und rief, der Genosse Direktor werde in zehn Minuten zu einer Konferenz im Transport-Kommissariat erwartet. Der Direktor lächelte müde und bat mich, fortzufahren. Ich war gerade bei den vierzig Wagenladungen angelangt, als das Telefon schrillte. Der Direktor nahm ziemlich ungeduldig den Hörer ab.
»Jawohl, hier ist Genosse Ostrowski! Wie bitte, was wünschen Sie? Also, nun hören Sie mal zu, Genosse Iwanow, ich habe Ihnen heute morgen ausdrücklich gesagt, daß das Linoleum im Bluttransfusions-Institut nicht fortgenommen wird. Haben Sie mich verstanden, ja? Was die Leute vom Meteorologischen Institut sagen, ist mir schnuppe! Ich habe meine Anordnungen von oben, nach denen Sie sich ebenfalls zu richten haben. Das Linoleum bleibt im Bluttransfusions-Institut und damit basta!« Gereizt schmetterte er den Hörer auf die Gabel.
»Es gibt eben überall Schwierigkeiten«, lächelte er dann entschuldigend, »aber das da ist ein ziemlich komplizierter Fall. Das Bluttransfusions-Institut, das Meteorologische Institut und die französische Botschaft wechseln reihum ihre Gebäude, und alle drei versuchen mitzunehmen, was nicht niet- und nagelfest ist. Tja, bis zu einem gewissen Grade leider auch die Franzosen! Aber fahren Sie mit Ihrer Geschichte fort. Ich bin überzeugt, wenigstens Sie würden solche Sachen nicht machen — Sie Amerikaner nicht!« Er lächelte und seufzte.
Als ich erneut beginnen wollte, öffnete sich die Tür des Büros, und herein kam die alte Putzfrau, vorsichtig ein Glas Tee auf einem Tablett jonglierend. »So, Sergei Dimitritsch, nun müssen Sie Ihren Tee trinken. Es ist schon nach zwölf.«
»Schönen Dank, Anna Pawlowna, aber ich habe extra bestellen lassen, daß ich heute keinen Tee wünsche. Ich habe keine Zeit.«
»Nun, nun! Zeit? Was ist das? Jeder Mensch hat Zeit für seinen Tee, und wenn nicht, wird er sich später viel Zeit nehmen müssen — vom Doktor verordnet!« fügte sie mit einem Seitenblick auf den ältlichen Direktor unheildrohend hinzu. Sie setzte ein dampfendes Glas vor ihn hin und watschelte wie eine Ente hinaus.
»Entschuldigen Sie«, seufzte der Direktor, »fahren Sie fort.«
»Die Sache ist die: In den nächsten Tagen erwarten wir eine ziemliche Menge Möbel und Einrichtungsgegenstände für die Botschaft. Insgesamt vierzig Waggonladungen. Wir müssen sie transportiert haben
»Vierzig Waggonladungen? Na, das scheint mir ja wirklich eine fürchterliche...« Das Telefon unterbrach ihn.
»Zum Teufel!« Ärgerlich nahm er den Hörer ab. »Ja, hier Sergei Dimitritsch. Waas? Das Meteorologische Institut will die Türangeln mitnehmen? Nein — unbedingt nein! Angeln gehören zum Haus. Ohne sie würden die Türen ja herausfallen! ... Mir völlig gleichgültig, ob die französische Botschaft ihre Türgriffe mitnimmt. Vermutlich sind es irgendwelche Spezialgriffe — zur Sicherheit. Sie können leicht durch reguläre wieder ersetzt werden. Das Meteorologische Institut jedenfalls braucht keine Sicherheit — außer vorm Wetter! Sollen meinetwegen die Schlösser mitnehmen, aber weder Angeln noch Sicherheitsgriffe. Verstanden? ... Wie? Das Linoleum ist trotzdem mitgenommen worden? Von wem? Von der französischen Botschaft? Verdammt, sie haben mir doch versprochen, sie wollten’s nicht tun! ...Wer hat gesagt, das Linoleum aus dem Bluttransfusions-Institut sei blutig? ... Na, und? Was erwarten Sie denn, zum Donnerwetter noch mal? Man kann keine Omelette machen, ohne Eier zu zerschlagen — auch ein französischer Küchenchef nicht! ... Hallo! Hören Sie noch? Fräulein, wir sind unterbrochen worden. Verbinden Sie uns sofort wieder! ... Mit welcher Nummer ich gesprochen habe? Weiß ich auch nicht — wahrscheinlich mit der französischen Botschaft. Nein, nein, Bluttransfusions-Insti — oder — hallo — vielleicht das Meteorologische... Ach, beim Satan, ich weiß es auch nicht!« Der Direktor krachte den Hörer in die Gabel und wandte sich mir zu.
»Ja, also, Sie wollen umziehen? Mit der amerikanischen Botschaft? Aber, mein Bester, sie ist doch noch nicht einmal hier, und schon wollen Sie umziehen? Du liebe Güte! Sie werden doch hoffentlich nicht so fürchterlich lästig werden wie die französische Botschaft?« Die Tür öffnete sich, und die Sekretärin schob die Nase durch den Spalt:
»Sergei Dimitritsch, Sie haben noch genau zwei Minuten
Zeit, um zum Kommissar zu fahren
»Ja, ja, ich weiß, ich bin im Moment da.«
An der Sekretärin vorbei watschelte die Scheuerfrau wieder ins Zimmer: »Sergei Dimitritsch! Ihr Tee wird ja kalt...«
»Herrje, können Sie denn nicht sehen, daß ich bis über die Ohren beschäftigt bin, Frau — äh, ich meine, Genossin?« Er rang mühsam um Fassung. »Bitte, Anna Pawlowna, lassen Sie mich allein. Ich will keinen Tee!«
Die Putzfrau verzog sich schleunigst.
»So, also die Amerikaner wollen umziehen, ehe sie angekommen sind, sagen Sie? Ein bißchen ungewöhnlich, aber na ja — erzählen Sie mir schnell, von wo, nach wo und an welchem Datum. Für die nächsten drei Monate sind wir natürlich besetzt.«
Allmählich wurde auch ich böse.
»Nein!« schrie ich. »Wir ziehen von Amerika hierher.«
»Von Amerika? Oh! Etwas Derartiges erledigen wir sowieso nicht! Nichts außerhalb Moskaus!«
»Aber wir wollen doch nur unsere Möbel vom Zollamt wegbefördert haben
»Befördern? O nein! Wir sind ein Umzugs-Trust, kein Beförderungs-Trust. Wir können nichts vom Zollamt abholen. Haben wir im Leben noch nicht getan!«
»Ja, aber wenn Sie nicht wollen, wer will dann?«
»Hm — das müßte ich mal überlegen... Wer wird Ihre Sachen vom Zollamt wegbefördern? Warten Sie mal einen Moment... Wer hat mir da doch letzte Nacht was erzählt? — Ach ja, richtig! Meine Tochter! Sie arbeitet in der Transport-Abteilung des Braunkohlen-Trusts. Sie sagte, sie hätten eine flaue Zeit. Vielleicht der Direktor — ein netter Bursche — Poswoski, glaube ich, heißt er... Wenn Sie sich mal an ihn wenden würden, vielleicht kann er helfen? Warten Sie, die Adresse ist Herzenstraße vierundvierzig oder fünfundvierzig — oder doch irgendwo in der Nähe.«
Der Direktor erhob sich. »Und jetzt werden Sie mich gewiß entschuldigen. Ich habe mich sowieso schon um zehn Minutenverspätet, und der Transport-Kommissar ist geradezu ekelhaft pünktlich...« Das Ziegenbärtchen entwetzte. Herzenstraße, Prokowskipfad, Puschkinplatz, »A«-Boulevard, »B«-Boulevard. Ich rutschte glattgefrorene, schneebedeckte Bürgersteige entlang und boxte mir einen Weg durch Straßenbahnwagen von einem Ende Moskaus zum anderen. Braunkohlen-Trust, Oberster Arbeiterrat, Kunstgummi-Trust und ein Dutzend weiterer...
Zum guten Schluß jedoch waren die Details unseres Planes bis ins kleinste ausgearbeitet, und ich erstattete Kennan Bericht.
»Es ist ein bißchen kompliziert«, gab ich zu, »aber es müßte eigentlich klappen. Und zwar wird es so vor sich gehen«, fing ich voller Enthusiasmus an, »wenn die Sendung die Grenze passiert, erhält der Zollchef telegrafisch Bescheid. Er wird die Eisenbahnverwaltung und den Güterbahnhof benachrichtigen. Sein Assistent benachrichtigt mich. Ich rufe sofort die Protokollabteilung des Kommissariats für Auswärtige Angelegenheiten an, die mir versprochen hat, gleich einen Boten mit den nötigen Papieren zu schicken. Dann telefoniere ich zum Braunkohlen-Trust
»Braunkohlen-Trust?« unterbrach mich Kennan, »um Himmels willen — was haben Sie denn mit dem zu tun?«
»Da hat man mir zehn Fünftonner-Lastwagen pro Tag bis zur Beendigung der Operation zugesagt. Nach dem Braunkohlen-Trust verständige ich den Chefassistenten des Gewerkschaftsrats. Er sorgt für Möbelpacker und Träger. Acht pro Lastwagen, insgesamt achtzig. Auf dem Weg zum Zoll-’ amt springe ich dann noch schnell zum Kunstgummi-Trust hinein. Dessen Telefon ist nicht mehr angeschlossen, seitdem sie nach Wladimir umgezogen sind.«
Als sich Kennans Augen fragend zusammenzogen, erläuterte ich schnell: »Der Direktor des Kunstgummi-Trusts ist immer noch hier in Moskau. Er ist damit einverstanden, uns sein leeres Warenlager für zwei Monate zu vermieten. Danach muß er es dem Südukrainischen Zuckerrüben-Trust oder so was Ähnlichem übergeben... Aber für zwei Monate sind wir untergebracht«, schloß ich triumphierend. Kennan jedoch starrte mich ohne jede Begeisterung an: »Ich denke, Sie wissen, daß Sie drei Konkurrenzangebote für jede der von Ihnen geplanten Operationen brauchen! Sonst genehmigt uns das Finanzministerium in Washington nicht die Bezahlung der Rechnungen!«
»Konkurrenzangebote?« stöhnte ich. »Aber wir sind hier in Rußland — in Sowjetrußland! Das ist völlig unmöglich, es gibt doch keine Konkurrenz hier!«
»Hören Sie auf«, sagte Kennan erschöpft, »natürlich weiß ich das. Aber ob das Finanzministerium das kapiert? Ich werde dem Botschafter telegrafieren. Vielleicht kann er’s ihnen erklären. Sonst finde ich Ihren Plan großartig — falls er funktioniert. Bloß«, er zögerte einen Moment, »angenommen, die vierzig Wagenladungen kommen gar nicht auf einmal?«
Tage vergingen. Nicht die Spur einer Ankündigung vom Zollamt. Zweimal sprach ich den Vorgang noch telefonisch mit dem genialen Zollchef durch.
»Machen Sie sich keine Sorgen«, beruhigte er mich, »sobald die Sachen an der Grenze auftauchen, werde ich Sie benachrichtigen — notfalls sogar nachts.«
Und endlich klingelte eines Morgens früh das Telefon in meiner Wohnung.
»Karl Georgijewitsch«, lärmte die Stimme des Zollchefs, »gestern abend hat eine Sendung für die amerikanische Botschaft die Grenze bei Njegorjeloje passiert. Sie wird jeden Augenblick erwartet. Ich werde meine Leute verständigen; vergessen Sie nicht, die Ihren zusammenzurufen. Bis gleich!«
Ich rief Kennan im National-Hotel an und teilte ihm die Neuigkeit mit. »Ich gehe schnurstracks zum Zoll, und sobald die Operation angelaufen ist, berichte ich Ihnen, was die Ladung enthält.« Für das Wort »Operation« habe ich immer eine Schwäche gehabt. Es klingt bedeutsam und militärisch.
Dann rief ich einen Bekannten an, einen Verehrer der Tochter des Hauses, der in einer nahe gelegenen Garage beschäftigt war und ein Motorrad zur Verfügung hatte.
Ob er wohl sofort kommen und mich in einer Regierungsangelegenheit zum Zoll fahren könne? Es sei außerordentlich dringend — und amtlich, fügte ich hinzu.
Dann das Kommissariat für Auswärtige Angelegenheiten, jawohl, sie würden umgehend einen Boten der Protokollabteilung mit allen notwendigen Papieren losschicken. Braunkohlen-Trust und Gewerkschaftsrat waren schnell alarmiert.
Das laute Gurgeln eines Motorrades auf der Straße kündigte die Ankunft des Anbeters der Haustochter an. Augenblicke später schlitterten wir über vereiste Straßen zum Lagerhaus des Kunstgummi-Trusts und dann zum Bahnhofsplatz.
Als wir am Zollamt vorfuhren, sah ich zehn schwere Lastwagen mit je acht wuchtigen Packern in den Hof einbiegen. Drinnen warteten der Zollchef, sein Assistent und ein flinker Bote des Kommissariats für Auswärtige Angelegenheiten bereits auf mich. Alle schienen glänzender Laune zu sein, besonders der riesige Chef, dessen Augen für diese frühe Morgenstunde schon ungewöhnlich munter funkelten. Gemeinsam schritten wir über den Hof hinaus an die Zollrampe, der Chef voran, ich, inzwischen vor Wichtigkeit fast platzend, gleich hinter ihm.
Mitten im Lagerschuppen stolperte der Chef.
»Karl Georgijewitsch«, verkündete er, jedes einzelne Wort feierlich betonend, »die erste Ihrer vierzig Wagenladungen ist ausgepackt worden und liegt zu Ihren Füßen.«
Er wies auf einen kleinen Holzkasten auf dem Boden. Quer über den Deckel lief eine Aufschrift:
»Pilsener Bier — zwölf Liter. Mit besten Empfehlungen — die Brauerei.«